Willkommen in einer Sammlung von Art Brut und Aussenseiterkunst!

 

Nancy Denommee

Jaber wurde im Januar 1938 in M’Saken, in der Nähe von Sousse in Tunesien, geboren, er starb am 17.Oktober 2021 und wurde an seinem Heimatort beerdigt. Sein eigentlicher Name ist Jaber al-Majoub (in arabisch «der Gesegnete»). Als er klein war, war er in der Hirtenfamilie für die Esel zuständig. Er hat keine Erinnerung an seinen Vater und auch seine Mutter starb, als er 6 Jahre alt war. Von der ältesten Schwester aufgezogen, ging er nie zur Schule. Mit 18 Jahren bestieg Jaber die Fähre nach Frankreich, um dort sein Glück zu suchen. Er schlug sich während mehrerer Jahre in Marseille durch, immer mit der Absicht, sich in Paris niederzulassen, was ihm schliesslich gelang. In der Stadt seiner Träume fand er, als Nachtschwärmer, bald Arbeit als Bäcker. Wartezeiten in den langen Nächten in der Bäckerei vertrieb er sich damit, mit Kohle auf die weiss getünchten Wände zu zeichnen und zur Bestürzung des Patrons begann er, Brötchen in der Form von Vögeln und Fischen zu backen.

Als er hörte, als Boxer sei viel Geld zu verdienen, bewarb er sich und mit seiner Beweglich- und Geschicklichkeit beeindruckte er so sehr, dass ihm eine solide Ausbildung in der Kunst des Boxens ermöglicht wurde. Aber bald wurde klar, dass Jaber kein geborener Kämpfer war und keinen Spass daran fand, seinen Gegnern Schläge auszuteilen. Die Legende will, dass sich Jaber auf dem Weg zum Training eines Tages in der Türe irrte und unvermittelt in einem Tonstudio stand, wo Tontechniker auf einen Schlagzeuger warteten, der nicht erschienen war. Jaber, nie abgeneigt, Neues zu probieren, bot sich als Ersatz an und nach wenigen Proben entstand eine erfolgreiche Aufnahme. Seine unerwarteten vokalen und rhytmischen Talente ermöglichten ihm später, Aufnahme ins Petit Conservatoire de Mireille einzutreten. Es entstanden erste Aufnahmen für Pathé Marconi – Jaber verdiente Geld aus Tantiemen seiner Musik.

Doch er war ein zu freier Geist, um sich auf die Beschäftigungen als Bäcker, Boxer und Sänger zu beschränken und so begann er, Gouachen zu malen, die er rund um St. Michel für 5 Fr. pro Stück verkaufte. Ende der 60er-Jahre wurde er von einer wohlhabenden Amerikanerin «entdeckt». Beeindruckt von seinen reichen Talenten, nahm sie ihn mit in die USA, wo die beiden überstürzt heirateten. Jaber wusste nicht, wie ihm geschah. Verheiratet zu sein, erwies sich als eine Katastrophe. Seine Frau weinte Tag und Nacht und Jaber, der realisierte, dass er sich wie ein Kind hatte führen lassen, kehrte nach Paris zurück, wo er sich am wohlsten fühlte.

Bereichert duch seine Amerikaerfahrung und bewaffnet mit zahlreichen Diplomen und Presseberichten, mietete er sich gegenüber dem Centre Georges Pompidou ein, wo er seine Bilder ausstellte. Daneben hatte er zahlreiche Ausstellungen in Galerien des Beaubourg-Quartiers. Die damit verbunde-nen Verpflichtungen entsprachen aber nicht seinem Bedürf-nis nach Ungebundenheit. So zog er vor, den Galerien Arbeiten in Kommission zu geben und wieder selber direkt zu verkaufen. Damals, Ende der 70er-Jahre, bin ich Jaber erstmals begegnet. Ich hatte mehrere seiner Bilder und eine Skulptur gekauft, den dahinter stehenden Künstler aber noch nie getroffen. An einem Sonntagnachmittag auf dem Place Beaubourg erweckte eine von Rock beeinflusste arabische Musik meine Aufmerksamkeit und dabei fiel mein Blick auf eine Laute, welche offensichtlich von Jaber bemalt worden war. Das Instrument hatte einzig drei oder vier Saiten und wurde traktiert von einem wild aussehenden Mann, einer Mischung aus heruntergekommenem Individuum und Clochard, gekleidet in einem weissen Tuch, einem verbeulten Fez und ausgetragenen Jeans. Am Ende seiner Darbietung ging ich auf ihn zu, aber noch bevor ich ihn fragen konnte, ob er wisse, wo ich Jaber finden würde, ergriff er meine Hand, als würden wir uns seit zwanzig Jahren kennen und sagte «grüssen Sie mir Michel». Ich habe erst später, als ich Ihm wieder begegnet bin, gemerkt, dass ich ihm damals zum ersten Mal persönlich begegnet war.
Heute stellt Jaber nicht mehr in Galerien aus, weil er zu ungeduldig ist, um auf Verkäufe zu warten. So kommt er jeden zweiten oder dritten Tag, um mir seine neusten nächtlichen Kreationen zu zeigen. Er arbeitet nachts, schläft am Morgen und verkauft am Nachmittag. Generös durch und durch, verteilt er am Ende des Nachmittags jeweils alles, was nicht verkauft wurde, an die erstbesten Passanten. Grossmütig und anhänglich gegenüber Freunden, ist er misstrauisch gegenüber Anbiederungen von Fremden.

Jaber umgeht das Verbot des Islams, Menschen darzustellen, indem er Figuren in Landschaften verwandelt, eine Rose oder eine Leiter an Stelle der Nase, einen Fisch oder ein Boot als Mund, ein Jasmin oder Vogelnest an Stelle der Haare. Diese Elemente sind gleichzeitig Symbole, welche auf Tunesien, seine Heimat, verweisen, eingebettet in eine sich endlos wiederholende Landschaft von Himmel, Erde und Meer.
Eine Malerei Jabers ist ein Bilderrätsel, eine Landkarte zur Schatzsuche für die Nachwelt. Wir müssen lernen, die Tiefe einer Welt zu entziffern, welche stets heiter und poetisch ist, aber gleichwohl kritisch gegenüber der westlichen Gesellschaft. Seine Faszination gegenüber Persönlichkeiten mit Macht kommt immer wieder zum Ausdruck. Als ehemaliger Bäcker braucht er Brot, um Politiker darzustellen: in der Hand De Gaulles wird Brot zum Polizeiknüppel, das Centre Beaubourg wird zum Laib, der Pompidou umschliesst und von Chirac unter den Armen verteiltes Brot erhält soziale Bedeutung.

Jabers Arbeiten sind leicht erkennbar durch ihre Beschriftungen: Orte oder Gegenden, die ihm aufgefallen sind, die Jahreszahl und seine Signatur in Grossbuchstaben. Manchmal zeigen die Bilder den täglichen Überlebenskampf, das Leben der Hirten, Bauern oder Fischer und der Tiere, wo Grosse Kleine fressen. «Im wirklichen Leben liebt niemand den anderen», betont Jaber, «Jeder versucht, den anderen zu fressen, und was mich betrifft, ich fresse mich selber.» Sein Werk ist eigenständig und von Aussen kaum beeinflusst. Es gibt Kritiker, die seine Gemälde als zu oberflächlich bemängeln oder gar als Massenware betrachten. Man sollte sich dabei vergegenwärtigen, dass seine malerische Arbeit mit derjenigen des Musikers vergleichbar ist, der improvisiert. Seine Improvisationen sind von der Tagesform abhängig, aber selbst an einem schlechten Tag bleibt ein Jaber ein Jaber, voll Emotionen, Poesie und Wärme. Seine Werke sind in den weltweit wichtigsten Sammlungen von Outsider-Kunst vertreten: Chicago (USA), Dicy (F), Lagrasse (F), Lausanne (CH), New York (USA) und Zwolle (NL).


 

 

Jaber al-Mahjoub leerPeter Bolliger

Jaber Pinterestauf
 
 
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